Interview – Lese(in)kompetenz (Prof. Dr. Valtin)

Die Lesekompetenz ist ein entscheidender Schlüssel zum schulischen und beruflichen Erfolg. Laut verschiedener Studien verfügen zirka 15 % der ostbelgischen Grundschüler über eine nicht ausreichende Lesekompetenz. Doch was kann getan werden, um die Lesekompetenz zu fördern? 

„Wie definiert man „Lese-Schwäche“? Sinnvoll finde ich eine Definition wie funktionale Leseschwäche, also ein Mangel an grundlegenden Lese- und Schreibfähigkeiten, der die Möglichkeiten der Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben, am lebenslangen Lernen und das Potenzial an persönlichem Wachstum beeinträchtigt. Es ist  beunruhigend, dass in Europa bei jedem fünften 15-Jährigen und rund 55 Millionen Erwachsenen eine derartige funktionale Leseschwäche besteht.“

Ein Interview.

Prof. Dr. Renate Valtin von der Humboldt-Universität Berlin, Sie sind eine ausgewiesene Expertin in Sachen „Schreib- und Lesekompetenz“ und waren auch an der Auswertung der IGLU-Studien beteiligt. Sie gehörten außerdem der Gruppe hochrangiger Sachverständiger „Literacy“ an, die von der Europäischen Union einberufen wurden, und sind Vizevorsitzende der ‚Federation of European Literacy Associations (FELA)‘. Können Sie uns sagen, warum die Fähigkeiten ‚Lesen und Schreiben‘ so wichtig sind?

 

Prof. Dr. Valtin: Die Beherrschung der Schriftsprache ist eine grundlegende Voraussetzung für  schulisches und lebenslanges Lernen, für persönliche Entwicklung und Bildung sowie für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe. Mangelnde Lese- und Schreibkompetenzen mindern die Chancen für lebenslanges Lernen und auf einen angemessenen Arbeitsplatz und bergen ein höheres Armutsrisiko. Da auch EU-weit viele Personen von Analphabetismus und Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben betroffen sind, hat die EU das Projekt ELINET gefördert: European Literacy Policy Network, an dem ich beteiligt war. Wir haben für alle Länder, die in diesem Projekt mitgearbeitet haben, Länderberichte zum Stand der Lesekompetenz erstellt sowie einen Europäischen Referenzrahmen für gute Praxis der Leseförderung entwickelt und auch auf der Netzseite viele Beispiele guter Praxis veröffentlicht. Insgesamt haben wir im Projekt ELINET, an dem 80 Organisationen beteiligt waren, zahlreiche Vorschläge für eine Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz in allen europäischen Ländern vorgelegt.

 

Wie könnte die aussehen?

 

Prof. Dr. Valtin:  In der „Europäischen Erklärung des Grundrechts auf Lese- und Schreibkompetenz“, an der ich federführend beteiligt war, haben wir elf Voraussetzungen herausgestellt, um dieses Recht auf Lesen und Schreiben europaweit zu ermöglichen.

 

Wie lauten diese elf Voraussetzungen?

 

Prof. Dr. Valtin: Ich zitiere aus der „Europäischen Erklärung des Grundrechts auf Lese- und Schreibkompetenz“:

  • Kleine Kinder werden in der Familie in ihrer sprachlichen und schriftsprachlichen Entwicklung gefördert.
  • Eltern werden aktiv darin unterstützt, den Sprach- und Schriftspracherwerb ihrer Kinder zu fördern.
  • Erschwingliche und qualitativ hochwertige Vorschulen und Kindergärten fördern die sprachliche und schriftsprachliche Entwicklung aller Kinder.
  • Ein anspruchsvoller Lese- und Schreibunterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene wird als Kernaufgabe aller Bildungsinstitutionen angesehen.
  • Alle Lehrkräfte erhalten eine solide Aus- und Fortbildung, damit sie der anspruchsvollen Aufgabe der Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenzen im Sprach- und Fachunterricht gerecht werden können.
  • Digitale Kompetenz wird bei allen Altersgruppen gefördert.
  • Lesen zum Vergnügen wird aktiv gefördert und angeregt.
  • Bibliotheken sind für alle Bürger/innen leicht zugänglich und bestmöglich ausgestattet.
  • Kinder und Jugendliche, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, bekommen angemessene Hilfe von Expertinnen und Experten.
  • Erwachsene werden dabei unterstützt, die notwendigen Lese- und Schreibfähigkeiten zu entwickeln, um aktiv an der Gesellschaft teilhaben zu können.
  • Politische Entscheidungsträger, Fachleute, Eltern und kommunale Einrichtungen arbeiten gemeinsam an dem Ziel, allen Menschen den Erwerb angemessener Lese- und Schreibkompetenz zu ermöglichen und Bildungsbenachteiligung zu überwinden.

 

Diese Erklärung wurde in 24 Sprachen übersetzt und ist auf der Netzseite von ELINET zu finden, im Übrigen auch in einer längeren Fassung, die Handlungsempfehlungen für die Realisierung dieser Voraussetzungen enthalten.

 

Wie hoch ist die Häufigkeit der Lese- und Schreibschwachen?

 

Prof. Dr. Valtin: Die Häufigkeit hängt natürlich davon ab, wie man „Schwäche“ definiert. Sinnvoll finde ich eine Definition wie funktionale Leseschwäche, also ein Mangel an grundlegenden Lese- und Schreibfähigkeiten, der die Möglichkeiten der Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben, am lebenslangen Lernen und das Potenzial an persönlichem Wachstum beeinträchtigt. Es ist  beunruhigend, dass in Europa bei jedem fünften 15-Jährigen und rund 55 Millionen Erwachsenen eine derartige funktionale Leseschwäche besteht. Dies ist umso alarmierender, als in den letzten fünfzehn Jahren im europäischen Durchschnitt keine Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz festzustellen ist, wie es die internationalen Studien PIRLS und PISA aufzeigen.

 

Das Problem der Lese-und Schreibschwäche findet man in allen Ländern Europas. Da Schule und Bildung als Basis für einen erfolgreichen Lebenslauf angesehen werden können, sollte die schulische Bildung auch als ein Faktor der Bildungsgerechtigkeit angesehen werden. Wie lautet denn die von Ihnen initiierte Europäische Erklärung?

 

Prof. Dr. Valtin: In allen europäischen Ländern gibt es Leistungsunterschiede zwischen Gruppen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft oder Migrationshintergrund. Allerdings gelingt es einigen Ländern besser als anderen, diese Kluft zu schließen. In der „Europäischen Erklärung für das Grundrecht auf Lese- und Schreibkompetenz“ betonen wir, dass jede Person in Europa das Recht hat, Lese- und Schreibkompetenz zu erwerben. Die Forderung lautet: Die EU-Mitgliedsstaaten gewährleisten, dass Menschen jeden Alters, ungeachtet ihres sozialen Hintergrundes, ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft und ihres Geschlechts über die nötigen Ressourcen und Möglichkeiten verfügen, um ausreichende und nachhaltige Lese- und Schreibfähigkeiten zu erwerben, damit sie geschriebene Kommunikation in handschriftlicher, gedruckter oder digitaler Form in effektiver Weise verstehen und verwenden können.

 

Frau Prof. Dr. Valtin, wir danken für das Gespräch.

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