Gerechtigkeit schaffen indem wir Grenzen setzen

Gerechtigkeit schaffen indem wir Grenzen setzen

Das Recht auf physische und moralische Integrität der Person gehört zu den rundlegenden Menschenrechten.  Die Verankerung dieses Rechts in der belgischen Verfassung ist ein deutlicher Auftrag an die Gesetzgeber dieses Landes. Es ist dies eine Frage von Gerechtigkeit, an der zurzeit immer mehr Bürger zweifeln und verzweifeln.

Es ist daher wichtig, die verschiedenen Erscheinungsformen der ganz alltäglichen Gewalt zu sichten, zu ordnen und sich politisch damit auseinander zu setzen. Die zahlreichen Vorfälle, über die täglich berichtet wird, verursachen ein Gefühl der Unsicherheit, bzw. ein Gefühl von Frust, mit dem wir uns auseinander setzen müssen.

Das Motiv „Grenzen setzen“ scheint gute Voraussetzungen zu bieten, über die vorliegende Thematik eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion zu führen, deren Ziel darin besteht, einerseits Gewalt vorzubeugen und andererseits dort, wo sie besteht, mit den Mitteln der staatlichen Repression angemessen zu bekämpfen.

Eine ganz alltägliche Nachrichtensendung: Einsatz von Blau-Helmen, Krieg gegen den IS, Attentate auf Flughäfen oder Konzerthallen, Krieg in Nahost, Kriegsdrohungen, Waffenkäufe in Krisengebiete, Gräueltaten verübt von Terroristen, Geiselerschießungen… die Liste ist unendlich lang. Und es sind nicht nur Informationen, es sind auch Vorbilder, wie Konflikte zu Gewalt führen und wie Gewalt eingesetzt wird, um sie zu „lösen“.  Nachahmer gibt es viele: um sich schießende Kinder an Schulen, brennende Asylbewerberheime, Banküberfälle, Autoklau mit Geiselnahme, Mord an Jugendlichen… Müssen wir uns mit einer neuen, ganz normalen, mediatisierten Gewalt, mit der Verrohung unserer zwischenmenschlichen Verhaltensweisen abfinden?

Diskussionen um Gewalt und Darstellungen von Gewalt schwanken häufig zwischen den Extremen von Dramatisierung bis Verharmlosung. Auf der einen Seite jagt die eine Mediensensation die nächste. CNN war live dabei.  Der krieg wird technisch clean dargestellt oder Verbrechen als authentischer Krimi. Andererseits wird Gewalt als Lösung von Konflikten oder als Methode zur Erreichung von Zielen in zahlreichen Kinder- und Jugendfilmen banalisiert und legitimiert.  Gefallen sind die Hemmungen in den großen Fußballstadien, wenn z.B. Hooligans sich einen Spaß daraus machen, unbeteiligte Opfer oder Ordnungshüter für den Rest ihres Lebens zu verstümmeln.  Auch Jugendliche sprechen von „Spaß“, „Lust“ und „geilen“ bzw. „coolen“ Erfahrungen, wenn sie von ihren Gewaltakten erzählen – auch in Ostbelgien.

In fast allen Forschungen wird die Ursache für Gewalt darin gesucht, dass  individuelle Biographien wie beispielsweise eine autoritäre Erziehung, persönliche Einstellungen oder soziale Probleme von Gemeinschaften wie Desintegration und Benachteiligungen als Erklärung herhalten müssen. „Gewalt als Krankheit“ (Benachteiligung, bestimmte Erziehungsstile oder soziale Desintegration) einzelner Individuen, die in die ansonsten „gesunde“ Gesellschaft einbricht. Oder es sind die Erziehungsstile: allzu laxe Erziehung oder allzu autoritäre Erziehung.

Der Täter als Opfer de Umstände? Aber warum werden dann nicht alle Opfer zu Tätern? Welche Schlussfolgerungen daraus ziehen? Erklärungen suchen und Verständnis aufbringen? Gewalt entschuldigen und somit unterschwellig legitimieren? Wir müssen klare Grenzen ziehen: Null-toleranz gegenüber jeglicher Form von Gewalt! Jede andere Haltung öffnet die Schleusen für noch mehr Gewalt.

Gewalt fordert moralische Entrüstung heraus. Betroffenheit wird zur Schau gestellt, denn es geht moralisch darum, die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten – wenigstens zum Schein. Und auf jede Entrüstung folgt ein neuer Gewaltakt dem wiederum Entrüstung folgt usw.  Eine Endlos-spirale! Wir leben in einer gewaltbereiten Gesellschaft – und das ist nicht neu.

Wir leben aber auch in einer Gesellschaft, in der Zivilcourage öffentlich aufgewertet und gestärkt werden muss. Es ist ein wichtiger Auftrag an die Politik, den viel zu oft beobachtbaren Voyeurismus durch mutige Bereitschaft, einzugreifen und Grenzen zu setzen, zu ersetzen.

„Die Menschen sind Vorteilssucher“ geworden. Sie versuchen, das jeweils Bessere zu erhaschen, wenn es sich bietet. Die soziale Dimension des kollektiven wie individuellen Handelns geht verloren. Die ständigen Angriffe auf die Soziale Sicherheit machen es vor.  Sie legen Feuer an die Lunte mit Begriffen wie „Sozialschmarotzer“, „soziale Hängematte“ oder mit Forderungen wie „Kranke an die Arbeit“. Die moralische Verdummung der Gesellschaft bestimmt einen Teil ihres unangenehmen, kalten Klimas. Wenn die Moral sinkt, dann steigen die Kosten für den Einzelnen. Im Klartext: Gewalt als Folge eines Wertewandels? Als Folge der Aufweichung von Normen und Autoritäten? Als Produkt bzw. Zuspitzung der Ellenbogengesellschaft?

Gewalt als Folge des Verfalls der Familie? Des Verfalls elementarer sozialer Beziehungen? Als Aufschrei gegen die Individualisierung und …. Vereinsamung?

Willkommen in der Wirklichkeit

Wer sich etwas eingehender mit der Faktenlage befasst, wird besser verstehen, wie Verunsicherung entsteht, weshalb die Menschen das Vertrauen in die Politik, die Justiz, die Ordnungskräfte verlieren. Wobei die Politik meist als Projektionsfläche für den angestauten Ärger gilt. Wie auf der Kinoleinwand kann jeder den Film, seinen persönlichen Film erleben. Aber die Politik hat diesen Ärger zum Teil auch selbst zu verantworten, denn die Politik stellt sich oft dar als habe man auf alles eine Antwort oder eine Lösung. Oder man schiebt sich gegenseitig die Schuld für Dinge zu, die weder der eine noch der andere allein lösen können. Oder die Politik lenkt ab z.B. von einer von ihr verursachten sozialen Schieflage, indem sie sich die Attentate am Brüsseler Flughafen zunutze macht.

Wen wundert es, dass der Bürger Politik oft versteht als ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen, als Schauplatz für öffentliche Abrechnungen, wenn nicht gar als das endlose Tauziehen heillos zerstrittener Gremien, vor dessen Hintergrund es begabten Populisten stets einfacher wird, sich als Retter in der Not zu profilieren ?

Wir sollten uns davor hüten, Gewalt, Kriminalität oder alles, was damit in Zusammenhang steht, als rein jugendspezifisches Phänomen abzutun. Nichts wäre falscher, als mit dem ausgestreckten Finger des Gerechten auf die vermeintlich gewaltbereiten Jugendlichen zu zeigen. Doch stellen wir uns die Frage nach der Gewalt von und an Jugendlichen und beantworten wird diese ohne Dramatisierung und ohne Beschönigung.

Haben wir uns andererseits jedoch mal die Frage gestellt, worin denn für Kinder und Jugendliche der Unterschied zwischen der Realität und der Fiktion besteht? Bei vielen Video- und Computerspielen wird der Spieler aufgefordert, virtuelle Straftaten zu begehen: Mord, Körperverletzung, Geschwindigkeitsübertretungen, Car-Jacking, Folter, Nutzung von Massenvernichtungswaffen usw. Neben diesen Speilen gibt es auch die, welche rassistisch und ausländerfeindlich sind. Obwohl sie mehr als von zweifelhaftem pädagogischem Wert sind gibt es sie kostenlos oder gegen Bezahlung aus dem Internet.

Außerdem existiert ein Schwarzmarkt an PC-Spielen und Konsolenprogrammen. Und es gibt unter diesen Schwarzmarktspielen auch solche, bei denen der Spieler ein „Konzentrationslager“ verwaltet, bis hin zur Vernichtung der Insassen, dem Verkauf der Haare der Opfer, das Zahngold usw.  Der Hintergrund dieser Spiele benutzt oft Symbole aus der Nazizeit. Aus letzteren Gründen gibt es viele, die behaupten, dass  zu viel Fernsehen, video- und PC-Spiele Verwahrlosung und Gewalt fördern.

Nicht jedes Kind und nicht jeder Jugendliche, der Gewaltspiele spielt, wird selber oder automatisch gewalttätig. Doch ist die Gefahr grösser, wenn Kinder mit solchen Spielen oder mit gewaltverherrlichenden Fernsehbeiträgen allein gelassen werden. Wie sollen sie auch zwischen virtueller und reeller Gewalt unterscheiden können? Vor einigen Jahren machte die Aussage von „mediengeschädigten Kindern“ die Runde. Was ist dran an dieser Aussage? Und was sind die Folgen?

Eigene Interessen gilt es durchzusetzen, wenn nötig ohne Rücksicht auf andere. Ist das die Spitze des Eisbergs? Die Verrohung der zwischenmenschlichen Umgangsformen und der Sitten ist jedoch allgemeiner. Gewaltbereitschaft nimmt zu, ebenso wie das Wegsehen. Davon können Pädagogen ein leidvolles Lied singen.

Gewaltvorkommnisse  werden manchmal schamhaft unter dem Oberbegriff „Verhaltensauffälligkeit“ registriert, haben aber nachweisbar zugenommen (nicht nur in den sogenannten Sonderschulen). Insbesondere  hat  die Gewalt gegenüber Mitschülern zugenommen, z.B. auf dem Schulhof. Bei Gewalt gegen Sachen (Mobilar, Sanitärräume, Wände, Fahrräder…) ist ebenfalls eine Zuwachsrate zu verzeichnen, wird aber mehr und mehr randläufig wahrgenommen. (Verbale) Gewalt gegen Lehrer hält sich in Ostbelgien glücklicherweise noch sehr in Grenzen.

Ungehorsam, auf Provokation angelegtes Outfit, Unterrichtsstörungen, Disziplinlosigkeiten, ewiges Zuspätkommen zum Unterricht, unentschuldigtes Fernbleiben, Schulschwänzen… all das mag ja noch harmlos erscheinen. Stellt sich die Frage, wie verbreitet solche Verhaltensweisen sind? Und wie die Schulen damit umgehen? Weniger harmlos sind jedoch andere Verhaltensweisen wie Sachbeschädigungen (Vandalismus), Beschimpfungen und Verunglimpfungen (verbale Gewalt), Schlägereien und Handgreiflichkeiten (physische Gewalt), Belästigungen und Erpressungen, das Mitführen von Gegenständen, die als Waffe genutzt werden können, Diebstahl, Drogenhandel innerhalb und außerhalb von Schulen, Grölen von politischen Parolen, Mobbing unter Schülern… Alles nur Einzeltäter? Randphänomene? Eine Minderheit? Oder mehr? Wie gesagt, es ist nicht angezeigt, mit dem Finger des Gerechten auf Jugendliche zu zeigen, denn die Mehrheit benimmt sich korrekt. Aber es ist auch nicht angezeigt, mit dem Hinweis darauf, dass eine kleine Zahl sich daneben benimmt, wegzusehen. Welche Hilfe bieten wir den Eltern, den Schulen, den Jugendgruppen… mit der Verrohung der Umgangsformen fertig zu werden? Kann die Schule solche Fehlentwicklungen überhaupt korrigieren? Soll sie es, oder ist es nicht eher die Aufgabe der Eltern?

Und was antworten wir den besorgten Eltern, wenn sie uns fragen, etwas zu unternehmen, damit ihre Kinder nicht schutzlos den Verlockungen von Drogendealern oder ideologischen Rattenfängern ausgesetzt sind? Sollen wir auf unsere Nicht-Zuständigkeit verweisen? Sollen wir die Aufgabe allein den Schulleitungen und den Ordnungskräften überlassen? Wo bitteschön ist die Querverbindung zwischen diesen Fragen und den meisten Diskursen, die oft genug und meist rechthaberisch über die Köpfe der Menschen hinweg politisieren? Fragt man den einen oder anderen Schulleiter, dann wird einem bewusst, dass sich in den Schulen so mancher Trend ankündigt, mit dem man danach seine liebe Mühe hat. Dabei hört man auch manchmal ein  überzeichnetes Bild von „der Jugend von heute“. Beharrlichkeit und Kontinuität sind nicht (mehr) die Stärken des Schülers, schon gar nicht für schulische Belange: „er ist eine materiell eingestellte und narzisstische Persönlichkeit, die sich durch Reizhunger auszeichnet und deren Lebensrhythmus von Schnelllebigkeit und Sucht von Abwechslung gekennzeichnet ist. Er hält sich weniger an Regeln und interessiert sich hauptsächlich für sich und sein Vergnügen. Pflicht ist ein Begriff, den er möglicherweise kennt, der aber nicht sein Handeln bestimmt. Deshalb zeigt er auch nur eine mäßige Leistungsbereitschaft. Positiv zu bewerten ist allerdings, dass der heutige Schüler in der Regel kontaktfreudiger und kontaktwilliger ist, als der frühere Schuler. Allgemein ist er Fremden gegenüber aufgeschlossenerer und offener in seiner Meinung. “  Die Aussage eines Schulverantwortlichen aus einer badem-württembergischen Schule bleibe mal so hingestellt und unkommentiert. Wie sehen das die Schulverantwortlichen aus Ostbelgien? Sind gepflegter Umgang und die Arbeitstugenden etwa Tugenden „aus Opas Zeiten“?

Fragt man Eltern und Pädagogen nach den Wurzeln des problematischen Verhaltens, so bekommt man viele Antworten: mangelndes Schuldbewusstsein, Minderwertigkeitsgefühle, Mangel an argumentativen Fähigkeiten, mangelnde Sinnperspektive, Orientierungslosigkeit, Gewaltausübung als Reiz gegen innere Leere, familiäre Entwurzelung, gewaltverherrlichende Filme, Musik oder Videos, Erosion von Rechts- und Unrechtsbewusstsein, schulische (oder berufliche) Überforderung… Es sind dies einige Zutaten, welche Gewaltbereitschaft fördern – nicht nur bei Schülern, auch bei Erwachsenen. Die Ursachen sind vielschichtig und haben ihre Quellen sowohl im familiären als auch im schulischen oder gesellschaftlichen Bereich. Was wird aus diesen Jugendlichen, wenn sie später mal erwachsen sind? Eigene Kinder haben? Und sich zeitlebens mit den Ellenbogen durch das Leben hangeln?

Im Gespräch mit Eltern oder Lehrern wird oft deutlich, dass es im Rahmen von vorbeugenden Maßnahmen gegen aller Art von Gewalt sinnvoll sei, jede Form von aggressiv getöntem Verhalten physischer oder verbaler Art – auch wenn es tolerierbar erscheint – von vorne herein nicht zu dulden. Oder, um es anders auszudrücken, Grenzen zu setzen, auch wenn dies viel Mut und Zivilcourage erfordert. Und bei aller Liebe für politische Forderungen: die Schule kann nur sehr begrenzt korrigieren, was im Elternhaus schief läuft. Sie ist nur sehr begrenzt die Ersatzfamilie für das Elternhaus oder die Erziehungsberechtigten.

Junge Menschen orientieren sich – so eine häufig gemachte Erfahrung – bei Erwerb von Sozialverhalten an den Werten ihrer Clique und weniger am Regelwerk oder den Moralbegriffen der Erwachsenen, schon gar nicht an der Hausordnung einer Schule. Bedeutet das, dass man kapitulieren soll, sich aus der Aufgabe stehlen darf? Oder bedeutet dies, Eltern und Schulen den Rücken zu stärken, damit diese die Wertediskussion mit den Schülern wesentlich offener führen und dann auch Grenzen setzen? Die Diskussion über die philosophischen Fächer (Moral, Religion,…), bzw. darüber, ob diese als Pflichtunterricht beibehalten werden, ist letztendlich eine Diskussion darüber, ob die Schule aktiv Werte vermitteln soll oder nicht. Wozu ist ein Ingenieur fähig, wenn er das technische Wissen hat, aber als junger Mensch an keiner Wertediskussion teilgenommen hatte? Oder in Biologe bzw. Genetiker, bei dem keine moralischen Grenzen den Weg vorgeben?

Einbrüche, Verfolgungsjagden, Festnahmen, Verhöre, auf freien Fuß gesetzt… alles schon x-mal gehört oder gelesen.  Richtig, doch kann die Tatsache, dass solche Meldungen fast schon im Minutentakt über den Äther gehen, Aufschluss geben darüber, was die Gemüter der Menschen bewegt? Was sie von der Politik erwarten? Und warum sie es leid sind, immer wieder Versprechungen zu hören oder dass eine andere Ebene der Politik dafür zuständig ist? Das Pilatus-Syndrom, hat es die Politik erfasst?

Kann man sich vorstellen, was solche Meldungen an Diskussionen und an Erwartungsdruck, an Misstrauen und Spekulationen auslösen? An Erfolgsdruck und Stress auf seien der Ordnungshüter und der Überfallopfer? An Erleichterung und Zustimmung, sobald bekannt wird, dass die Täter gefasst sind? Und an Frust und Zweifel, wie lange es denn nun dauern wird, bis die gefassten Täter wieder frei sind? An Abgrenzung und „Abkehr vom Glauben an das Gute im Menschen“, solange die Erinnerung an die Toten und Verstümmelten frisch ist? An Rufen danach, das Gesetz in seiner ganzen Härte anzuwenden? Ungeachtet jeglicher Erklärungsversuche oder Appelle an die Vernunft? Ungeachtet jeder Analyse bzgl. der Ursachen oder der Vermeidungsstrategien? Ungeachtet der Biographie oder der Motive des Täters?  Wie viele reagieren mit Kopfschütteln angesichts  einer tatsächlich oder vermeintlich verständnisvollen Richterschaft? Wie viele sähen lieber den Polizisten als den Sozialarbeiter am Werk? Und wie viele sind bereit, aus dem Überfall heraus „allgemeine Schlussfolgerungen“ bis hin zu „verallgemeinerten Vorurteilen gegenüber jedem und allem“  abzuleiten? Wie groß ist das Verständnis angesichts überbelegter Gefängnisse, chronisch unterbesetzter Personalkader, eher rat- und hilfloser Richter und Staatsanwälte?

Wie viele Menschen haben sich die Frage gestellt, wie sie reagieren würden, wenn sie den Einbrecher in flagranti erwischen? Wie viele sehen sich vor die Alternative gestellt: der oder ich? Wie viele Menschen haben nachgedacht über die Frage, was sie tun würden, falls eines ihrer Familienmitglieder Opfer eines Attentats ist? Gewiss, es sind hypothetische Fragen solange der Einbruch oder das Attentat einen  nicht direkt berührt, aber es sind echte Emotionen, welche zu den Fragestellungen Anlass geben. Daher sind es legitime Fragen, auf die mit viel Fingerspitzengefühl eine Antwort gesucht werden muss.

Und was machen wir mit all denen, die schon immer gewusst haben, dass Einbrüche von Ausländern verübt werden? Die den Sachverhalt, dass Ausländer tatsächlich an einem Einbruch beteiligt sind, dazu nutzen, die Diskussion weiter anzuheizen und alle Ausländer ausnahmslos als potentielle Gefährder einzustufen? Kriminalität als ein ausländerspezifisches Phänomen? Sind nun alle Muslime potentielle Attentäter? Wie viel Differenzierung ist in einer aufgeheizten Diskussion überhaupt möglich? Und was machen wir mit all denen, die jetzt unsicher werden, weil sie vor dem Hintergrund tatsächlicher Akte nicht mehr wissen, was sie von der belgischen Asylpolitik halten sollen? Die den Verlockungen populistischer Thesen nicht mehr länger widerstehen können?

Umgekehrt: sollen sich Ausländer nicht an unsere Spielregeln halten müssen? Ist ein Ausländer, dem eine Straftat nachgewiesen werden kann, anders zu behandeln als ein Inländer? Wie sollen wir reagieren angesichts organisierter Banden, deren Verbindungen Richtung Osteuropa weisen? Ist die Ausweisung und Abschiebung das adäquateste Mittel? Oder eher das Strafrecht? Wer soll eingreifen, die Gemeinde (im Rahmen der lokalen Polizeizonen), der Staat (im Rahmen der föderalen Polizeizone und der Justiz), die Region (als Instanz, die Zuschüsse vergibt)?

Ecstasy, Ersatzdroge Methadon, Dealer, Drogenrazzia, Verhaftungen…. ein immer wiederkehrendes Motiv in den Abendnachrichten. Und das Problem besteht nicht nur in Lüttich, Köln oder Amsterdam. Zahlreiche Aussagen deuten darauf hin, dass es an der Zeit ist, das Problem der Drogen nicht weiter als das Problem Einzelner abzutun. Lassen wir uns doch mal berichten – ohne Pauschalisierung und objektiv – was auf Schulhöfen, auf Partys und in Diskos  so alles los ist. Woher kommen die meisten (jungen) Menschen überhaupt an die Drogen? Wer beschafft sie? An welchen Orten werden sie gehandelt? Was wissen wir darüber? Was wollen wir darüber wissen? Wie lange glauben wir noch, dass es sich dabei um den jugendlichen Protest von einigen Ausgeflippten handelt, der womöglich mit dem Ende der Pubertät wie von selbst verschwindet? Was wissen wir über die ostbelgische Beschaffungskriminalität? Was über die Fragen der Eltern, die sich von der Politik allein gelassen fühlen? Die den Eindruck haben von einer Einrichtung zur nächsten Einrichtung geschickt zu werden, weil keiner sich so richtig zuständig fühlt?

Wie gehen wir um mit den Versuchen, Kameras im öffentlichen Raum anzubringen, damit die Ortskerne ständig überwacht werden können? Hilft das wirklich, die Drogenkriminalität zu verhindern oder trägt es eher dazu bei, diese auf Ausweichorte zu verlagern? Auf der einen Seite die video-überwachte schöne heile Welt, auf der anderen versteckte Kriminalität, die in Vororte oder außerhalb der Sichtweite von Kameras zieht. Ohne zu reden vom Eindringen des Staates in die Privatsphäre des Menschen, von der Dauer der Datenspeicherung und dem gesicherten Schutz vor unbefugtem Zugang zu diesen Daten….

Wir sollen nicht mit den Fingern auf die Jugend zeigen. Nicht anklagen, aber auch nicht beschönigen. Nicht pauschalisieren. Wir sollen uns auf Basis objektiver Daten und Erkenntnisse ein Bild von der Situation machen und angemessen reagieren. Aber auch ein Bild davon, was in den Köpfen und Herzen der Menschen vor sich geht. Dabei stehen uns Überraschungen ins Haus – unliebsame und ernüchternde – aber auch Handlungsperspektiven.

„Nach dem Fußballspiel feierte er den Sieg seiner Mannschaft mit etlichen Mengen an Alkohol. In der Wohnung rastet er aus, schlägt brutal auf seine Frau ein, zerrt sie an den Haaren durch die Wohnung, würgt sie, bis er schlussendlich von ihr ablässt. Vor Gericht zeigt er Reue, er werde alle Kosten für die Behandlung seiner Frau übernehmen, versichert er. An die Einzelheiten kann er sich nicht mehr erinnern, nur daran, dass er rasend vor Eifersucht gewesen ist. Seit jenem Abend habe er keinen Alkohol mehr angerührt, erklärt er dem Richter. Dieser betrachtet ihn als öffentliche Gefahr, jedes Mal wenn er Alkohol getrunken habe. Selbstverständlich, so der Angeklagte, sei er bereit, einer Therapie zu folgen, um sein Problem in den Griff zu kriegen. Er werde auch Sozialstunden leisten, um einer Haftstrafe zu entgehen….“

Menschen klagen immer wieder darüber, dass Gewalt in der Familie, im vertrauten Kreis aufflackert. Das bleibt nicht ohne Folgen auf die Ehe und die Kinder. Die Folge: man fühlt sich verängstigt, revoltiert, einsam, hilflos… und verkraftet all das vorerst nicht – vielleicht später. Die Reaktionen: ausrasten, zuschlagen, verwahrlosen, anbrüllen…. Ein Cocktail alltäglicher Gewalt, die meist lange braucht, bis sie ans Tageslicht kommt. Gewalt auf sehr leisen Füssen! Oft genug ein Tabuthema. Ein Thema, bei dem weggeschaut und verharmlost wird. Von Nachbarn, von Kollegen, von Verwandten, und manchmal auch von den Ordnungshütern. Dann ist die Frau halt eben „versehentlich die Kellertreppe hinunter gefallen“.

Viel heimtückischer ist die psychologische, die sexuelle Gewalt, oder die ökonomische. Oder die gewalttätigen (brutal wie subtil daher kommend) oder pädophilen Übergriffe an den Kindern, die ein Leben lang daran zu tragen haben werden. Schlimm auch die Gewalt an Senioren, nicht zuletzt in den Pflegeheimen – in Form von „keine Zeit“, von „Ruhigstellen mittels Medikamenten“. Oft eine Folge  davon, dass das Personal unter Zeitdruck gesetzt wird. Alles muss so billig wie möglich sein, Defiziten von Altenheimen müssen auf Biegen und Brechen abgebaut werden – und Oma oder Opa haben schon „wiederkeinen Hunger gehabt“, weil ihnen niemand dabei half, das Frühstück zu sich zu nehmen. Oder sie bleiben – der Kosten wegen, wenn sie inkontinent sind – eben ein paar Stunden länger in einer nasse Pampers liegen, wund, dahinsiechend, verwahrlost. Schlimm auch die Euthanasie gegen den Willen des Patienten oder seiner Angehörigen. Die Geräte werden abgestellt, eine überhöhte Morphium-Dosis wird verabreicht – nicht anderswo, sondern auch in Ostbelgien. Über diese Frage wird nur hinter vorgehaltener Hand geredet, nie offiziell, nie mit Namen und Daten.

Konkurrenz um den eigenen Arbeitsplatz betrifft immer mehr Arbeitnehmer. Mobbing verursacht enormen menschlichen, sozialen und volkswirtschaftlichen Schaden. Mobbing macht krank. Nach längerer Zeit riskiert der Betroffene, arbeitsunfähig au werden. Im Extremfall verursacht Mobbing schwere Depressionen oder gar Selbstmord. Doch ist auch nicht alles Mobbing, was so genannt wird.

Ist solches Mobbing harmlos? Wer würde sich schon offiziell darüber beklagen, dass er auf der Toilette eingesperrt wurde? Oder dass seine Büropflanzen verschwunden sind? Oder dass er systematisch nicht mehr gegrüßt wird?  Oder zu den Geburtstagsfesten innerhalb der Abteilung nicht mehr eingeladen wird? Oder dass ihm wichtige Informationen vorenthalten oder erst in letzter Minute mitgeteilt werden? Laut Prof. H. Leymann, nachzulesen bei der Gewerkschaft Ver.di, ist Mobbing eine konfliktbelastete Kommunikation am Arbeitsplatz unter Kollegen oder zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, bei der die angegriffene Person unterlegen ist und von einer oder mehrerer anderer Personen über eine längere Zeit systematisch und immer wieder solchen direkten oder indirekten Vorgängen ausgesetzt ist mit dem Ziel oder dem Effekt des Ausstoßes aus dem Arbeitsverhältnis und dass der Betroffene dies als Diskriminierung empfindet. Laut dieser Definition ist Mobbing ein gezielter Akt der Aggression unter Arbeitskollegen oder zwischen Vorgesetzten und Untergebenen.

Beispiele von Mobbing-Handlungen: man wird ständig unterbrochen, man wird angeschrien oder beschimpft, die Arbeit wird ständig nur kritisiert, die Kritik greift über auf das Privatleben, mündliche oder schriftliche Drohungen werden ausgesprochen, das Opfer wird isoliert oder wie Luft behandelt, der Täter lässt sich nicht mehr ansprechen oder spricht nicht mehr mit dem Opfer, hinter dem Rücken des Opfers wird schlecht über dieses geredet, Gerüchte werden verbreitet, das Opfer wird lächerlich gemacht, es kommt zu Kränkungen, die politische oder religiöse Einstellung des Opfers wird angegriffen, das Opfer bekommt keine Arbeitsaufgaben mehr oder nur sinnlose, oder es bekommt systematisch Arbeitsaufgaben, die seine Fähigkeiten überschreiten, Denkzettel werden verpasst, es kommt zu sexuellen Handgreiflichkeiten, … Kommt doch alles irgendwie bekannt vor – oder nicht?

Mögliche Auslöser für Mobbing: Dauerarbeitsplätze werden seltener, immer mehr Arbeitnehmer müssen mit befristeten Arbeitsverträgen vorlieb nehmen. Dadurch steigt die Konkurrenz unter Kollegen. Termine müssen penibel eingehalten werden. Die Qualität der Arbeit sollte steigen. Doch die Arbeitsbedingungen hierfür werden schlechter: mehr Arbeit für weniger Mitarbeiter (Arbeitsverdichtung), mehr Leistung in weniger Zeit (Leistungsdruck), öfter wechselnde Arbeitsplätze und weniger Aussicht auf einen dauerhaften Arbeitsplatz (Flexibilität).

Die Folgen: Mobbing hat Folgen für den Mitarbeiter und für den Betrieb. Der Mitarbeiter fühlt sich hilflos und ausgeliefert. Seine Gesundheit nimmt Schaden. Er möchte früher in Rente gehen, kann aber nicht. Er kündigt. Für den Betrieb: häufigere Ausfallzeiten infolge von Krankheit; Reduzierung der Arbeitskraft, miserables Betriebsklima, weniger Sorgfalt bei der Arbeitserledigung, negatives Erscheinungsbild nach außen,…

Für große teile der Beschäftigung ist die Deutschsprachige Gemeinschaft bereits zuständig. Für ABM-Programme, für Stellenvermittlung und Berufsqualifikation, für Beschäftigungsvorteile und Arbeitslosenkontrolle usw. Und für die Prävention von Mobbing? Sollen wir untätig bleiben, weil Mobbing immer noch unter den Zuständigkeitsbereich der Föderalregierung fäll?

Eine Arbeit, die sich nur darauf beschränkt, das Problem zu beschreiben, ist nicht glaubwürdig. Das Ziel ist es, die Situation für den Bürger zu verbessern, dabei aber die Grenzen der politischen Handlungsfähigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Es darf aber auch nicht das Problem von einer Instanz auf die nächst weitergeleitet werden, etwa mit dem Hinweis, man sei eben nicht für alle Komponenten der Frage zuständig.

Das Motiv „Grenzen setzen“ zielt zu allererst darauf ab, denen den Rücken zu stärken, die in einer gemeinsamen Anstrengung das Thema anpacken wollen. Und wohl auch deswegen, weil das friedliche und konstruktive Zusammenleben der Menschen nur dann erfolgreich ist, wenn es sich nach gemeinsam akzeptierten  Spielregeln ausrichtet. Ein Zusammenleben ohne Spielregeln und ohne Grenzen artet aus in Chaos und in eine Ellenbogengesellschaft und ebnet den Weg für politische Demagogen und Rattenfänger.

Die  erste Phase muss darin besehen über das Thema einen breit angelegten Bürgerdialog (ein Bündnis für mehr Sicherheit und Bürgersinn mit der organisierten Zivilgesellschaft) zu organisieren. Das Thema muss systematisch angepackt werden, und kann sich nicht in sporadischen Einzelfallerörterungen erschöpfen. Schulleiter Jugendschützer, Staatsanwälte, Jugendorganisationen, Sozialarbeiter, Polizeikräfte, Gemeinde- und Gemeinschaftspolitiker, Vertreter von Medien, Kirchen und Gewerkschaften…. müssen darüber einen systematischen Austausch pflegen und eine gemeinsame Strategie entwickeln können. Zur Strategie gehört nicht nur die Klage über die Entwicklungen in diesem Bereich sondern auch die Stärkung von Zivilcourage und Bürgersinn, von Einsatzbereitschaft und Verständnis für präventive oder repressive Aktionen, die Abklärung von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und der Umgang mit populistischen Thesen – das Ganze zusammengefasst in einer Regierungserklärung de DG, die als Richtschnur für politisch-gesellschaftliches Handeln gilt.

Die zweite Phase ist der Umsetzung gewidmet. Für die Umsetzung werden Budgetmittel gebraucht. Im Rahmen einer zwischen den Gemeinden und der DG vereinbarten Partnerschaft gilt es, die nötigen Infrastrukturen zu schaffen und zu finanzieren, die im Bereich der Prävention und der Repression – komplementär zu bestehenden Einrichtungen und Initiativen – das (sprach- und staatsgrenzenüberschreitende) Geschehen organisieren und koordinieren, bzw. welche die Lobbyarbeit übernehmen, um Lücken zu schließen, wo noch Lücken vorhanden sind.

Kommentar

Bis zum heutigen Tag – so rechnet Martina – hat sie sage und schreibe 87 Bewerbungen verschickt. Und das innerhalb von 5 Monaten. 5 von den Bewerbungen wurden beantwortet. Auf 82 Bewerbungen hat sie noch nicht mal eine Empfangsbestätigung bekommen. Diejenigen, die geantwortet haben, bedanken sich ganz höflich, beteuern dass sie im Moment keine freie Stelle haben und versichern, zu gegebener Zeit auf ihre Bewerbung zurück zu kommen. Martina wurde vom Arbeitsamt eingeladen, sich zu rechtfertigen, ob sie sich in den vergangenen Monaten auch genügend bemüht hat, eine Arbeit zu finden. Sie begibt sich zum Arbeitsamt. Sie hat Glück. Der Beamte ist nicht so ein Drachen, wie andere das immer sagen. Der Beamte wird zum Chef gerufen. „Sie müssen mehr Druck auf die Arbeitssuchenden machen“. Der Beamte hört und weiß nicht, was er dem Chef antworten soll.
Anonymisierter Bericht eines Besuchers

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